Wie Regisseur Edgar Reitz und Hauptdarsteller Edgar Selge gemeinsam die Figur des Leibniz entwickelten. Ein E-Mail Austausch.

Mit Leibniz-Darsteller Edgar Selge erlebte Regisseur Edgar Reitz einen leidenschaftlichen Partner bei der Suche nach der inneren Wahrheit des Films LEIBNIZ – CHRONIK EINES VERSCHOLLENEN BILDES. Dieser Auszug ihrer insgesamt von Mai 2023 bis Oktober 2024 andauernden Mail-Korrespondenz zeigt, wie sie eine gemeinsame Sprache fanden und wie der Film immer weiter Gestalt annahm.

Edgar Reitz (r.) und „Leibniz“-Hauptdarsteller Edgar Selge (l.)
bei den Heimat Europa Filmfestspielen in Simmern © HEFF/Werner Dupuis
22.09.2024

Lieber Edgar Selge,
Wir haben heute Abend in kleinster Runde mit unserer Cutterin Anja die Muster der ersten Woche angeschaut und versucht die beiden Hauptfiguren auf uns wirken zu lassen. Dabei entstand zeitweise der Eindruck, dass Leibniz sich aktuell in einer verborgenen Krise befindet und deswegen so defensiv reagiert. Da stimmt einfach der Ton noch nicht.
Ist es nicht so, dass Leibniz immer wieder als äußerst amüsanter Unterhalter – vor allem der Damen – beschrieben wurde und dass ihm das Vergnügen am puren Denken regelrecht aus dem Gesicht leuchtete? Das vor allem macht ihn auch so liebenswert. Wir müssen diesen Denkakrobaten zum Leuchten bringen!
Der schönste Moment war in den Mustern übrigens die neue Stelle mit der selbsterfundenen Tinktur. Dein Vergnügen springt dabei regelrecht auf Spielpartner und Zuschauer über. Kurz: ein wesentlicher Schritt muss unsere FREUDE am Denken sein. Daran möchte ich mit Dir arbeiten. Evtl. müssen wir auch Texte ändern, Worte finden, die sich spontaner spielen lassen.
Gute Nacht!
Dein Edgar R.

24.09.2024

Lieber Edgar Reitz,
in der Szene 2-02-1, wenn die Kurfürstin mich Aaltje vorstellt, findet Leibniz seinen Diener Cantor bereits am Arbeitstisch mit der Malerin beim Reiben der Farben. Ich finde es überraschend, dass Cantor und Aaltje bereits zusammengefunden haben, bevor ich sie kennengelernt habe.
Wenn ich ihn heranwinke, um mir meinen Mantel abzunehmen, könnte ich mit einer kurzen Bemerkung darauf eingehen, im Sinne von:
«Das war aber eine schnelle Bekanntschaft!».
Vielleicht verwendet Leibniz auch dasselbe Wort wie Cantor: «hurtig».
Die Irritation über die Verkleidung von Aaltje scheint mir wichtig. Leibniz Satz: «So sollten wir leben. Und immer entlang der Wahrheit», könnte sich auf darauf beziehen, dass Leibniz es als Zumutung empfindet, die Camouflage mitzumachen.
Überhaupt denke ich, dass sich Leibniz Annäherung an Aaltje in unsicheren Blicken ausdrückt.
Die Überschrift der Szene heißt für mich: Wie Leibniz und Aaltje vorsichtig Vertrauen zueinanderfinden.
Liebe Grüße und bis gleich!
Edgar

FREUDE bei der „Tinktur“-Szene mit Lars Eidinger (l.) © ERF / if…Productions
26.09.2024

Lieber Edgar Selge,
schön, dass wir deinen Monolog heute zum Abschluss noch einmal so bewegend und zu Herzen gehend aufnehmen konnten. Ich denke, dass wir damit eine sehr gute erste Szene der Aaltje-Geschichte zustande gebracht haben. Der Film steigert seinen Schwierigkeitsgrad von Szene zu Szene und wird uns morgen zu Virtuosen des Schattenspiels erklären. Wobei uns Aaltjes Dämonen helfen mögen!
Auf weitere Abenteuer mit dir freuen wir uns alle und ich besonders,
Dein Edgar

26.09.2024

Lieber Edgar Reitz,
vielen Dank für dein wunderbares Feedback, das mir Mut macht, die nächsten Schwierigkeitsstufen mit dem vollen Risiko im spontanen Denken anzugehen.
Hier der Eingangstext, den ich leicht verändert habe:
«Der Entwurf eines eigenständigen Gemäldes setzt voraus, dass wir unserer Einbildungskraft die Freiheit lassen, ihren Flug in enthusiastischer Manier zu nehmen, ohne die Vernunft zu konsultieren! So wie wir ja überhaupt in der Fiktion Varianten des Möglichen durchspielen, um unseren Sinn für die Wirklichkeit zu schärfen. Denn am Ende ist es immer die Vernunft, die das Werk der Einbildung prüfen, kontrollieren und auch glätten muss, um etwas Gutes und Schönes hervorzubringen.»
Bist du einverstanden?
(Das Pyramidenbeispiel am Ende der Theodizee «schärft» den Wirklichkeitssinn durch die Varianten der zuvor durchgespielten Möglichkeiten.)

Erste „Stehprobe“ Leibniz auf dem Hocker, erster Drehtag mit Edgar Selge.
Rechts im Bild Kameramann Matthias Grunsky.
© ERF / if…Productions / Ella Knorz / Matthias Grunsky
28.09.2024

Lieber Edgar Reitz,
Gestern, finde ich, wenn ich das so salopp sagen darf, warst du ganz toll in Form. Dass du es geschafft hast, der Leibniz-Figur den «Erzähl-Onkel» auszutreiben und das Gehetzt-Sein eines alten Menschen aus mir herauszulocken, ist für mich und die Rolle geradezu ein Schlüsselerlebnis.
Ich empfinde den Raum zunehmend als klaustrophobisch, und ich denke, dass diese Empfindung zu Leibniz und unserer Geschichte gut passt. Der enge Raum, das hohe Alter, die junge Frau schaffen eine gespenstische Mischung aus Angst und Anziehung. Der Raum wird für Leibniz wie das eigene Leben immer unerträglicher. Ganz im Gegensatz zu seinen optimistischen, hoffnungsvollen Welterklärungsversuchen.
Das am Montag anstehende Gespräch über den zureichenden Grund würde ich gerne im Stehen, gerade an eine Wand gelehnt, führen, mit großer Geschwindigkeit, nichts Gemütliches darin, und den Schluss der Szene ganz offen von ihm, wie bestellt und nicht abgeholt.
Auch die folgenden Szenen enthalten das Potenzial für eine innere Panik von Leibniz, aber darüber würde ich gerne erst sprechen, wenn wir dort ankommen.
Ich grüße dich von Herzen und freue mich auf die nächste Woche!
Edgar S.

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LEIBNIZ – CHRONIK EINES VERSCHOLLENEN BILDES.