Die Kunst der Filmkritik von Gunter Groll

Was erwartet der Kinogänger von einer Filmkritik? Kurzinfo über den Inhalt und Angaben welche Stars mitspielen, vielleicht eine kurze und bündige, nicht weiter begründete Daumen-hoch- oder Daumen-tief Bewertung? Wenn der Leser Glück hat und die Zeitung Kinokritiken Platz einräumt, erfährt er noch etwas über den Regisseur, die Hintergründe und dramaturgischen Besonderheiten des Films. Insgesamt ist Filmkritik in einer Tageszeitung eher eine Serviceleistung. Eltern sollen erkennen, ob ein Film für den gemeinsamen Kinobesuch mit den Kindern geeignet ist; Wochend-Kinogänger, ob es ein Actionfilm oder eine romantische Komödie ist. Differenzierte Urteile und längere Ausführungen können in den Fachzeitschriften nachgelesen werden.
Aber daneben gibt es die Filmkritik auch als eigene Literaturform. Als wichtiger Vertreter dieser Gruppe kann Gunter Groll gelten, der von 1945 bis 1959 Filmkritiker bei der Süddeutschen Zeitung war. Groll setzte sich mit Film auseinander, als die «siebte Kunst» in Deutschland noch um Anerkennung rang. Seine Kritiken sind auch heute, ein halbes Jahrhundert nach ihrer Erstveröffentlichung, nicht überholt. Aus einer Anthologie seiner Kritiken drucken wir hier seine Besprechung des Films Zeugin der Anklage (USA 1957, Regie: Billy Wilder). (red.)

Perfekter Bluff

Der klassische Kriminalfilm war ein mehr oder weniger kunstfertiges, mehr oder weniger amüsantes Schachspiel der Spannung. Zu seinen Kennzeichen gehörten: präzise Logik, der raffi­nierte Bluff, und natürlich der Sieg des Guten (und Gescheiten) über das Böse (und Barba­rische). Die Lust am Denkspiel.

II

Der spätere, «hartgesottene» Kriminalfilm, von Micky Spillane bis Rififi, war mehr Krach als Schachspiel: lärmender, finsterer und geist­loser. Zu seinen Kennzeichen gehörten: präzise Prügel, der weniger raffinierte als kaltschnäu­zige Bluff, und zwar immer noch der Sieg des Guten über das Böse, aber nicht unbedingt mehr des Gescheiten über den Barbaren, sondern des relativ guten Barbaren über den relativ bösen Barbaren – wobei die Grenzen zwischen Gut und Böse, Detektiv und Gangster, zunehmend verschwammen. Der Neo-Brutalismus zog auf. Die Lust am Angsttraum.

Marlene Dietrich in Zeugin der Anklage

III

Zu den Vorzügen des perfekten Kriminal- und Gerichts-Films Zeugin der Anklage gehört die Widerlegung des Vorurteils, der klassische Kriminalfilm sei altmodisch und allein der hartgesottene auf erfolgreicher Höhe. Kein Schuß fällt hier, kein nächtliches Gruseln geht um, keine Leichen liegen realistisch zu Hauf; der Held, ein alter, kranker Mann, der ungefähr wie Churchill aussieht, schießt nicht und prügelt nicht, sondern denkt und redet. Er redet fast ununterbrochen – aber was für ein prachtvolles, hintergründiges, ironisches oder vitales Geschwätz ist das! Es entstammt einem Bühnenstück von Agatha Christie, aus dem Regisseur Billy Wilder ein ebenso intelligentes wie erfolgreiches Kriminal-Kammerspiel ge­macht hat.

IV

Charles Laughton ist als Strafverteidiger ein Monument der Skurrilität, trompetend und grinsend, resigniert und aggressiv, müde und gewaltig, dezent und dröhnend, ein Walroß mit Löwenherz oder ein Fuchs in Elefantengestalt: Triumph eines genialen Komödianten. Marlene Dietrich scheint anfangs mehr ein Monument der Maskenkunst, in bleicher Starre – bis ihre große Verblüffungs-Szene kommt, die sie hin­legt wie einst im Mai. Tyrone Power würde weniger blaß wirken, wenn er nicht neben diesem Laughton stände, neben dem fast jeder blaß wirken würde. Dabei drängt sich Laughton kaum vor; bemüht, niemanden an die Wand zu spielen, spielt er alle an die Wand.

V

Natürlich ist die Handlung, wie in allen Kriminalfilmen, ausgetüftelte Konstruktion; natürlich geht es hier nicht, wie in den Zwölf Geschworenen, um psychologische, soziolo­gische oder zeitkritische Fragen, sondern allein um den großen Bluff: um ein Bravourstück spannender Unterhaltung, das dann bisweilen, wie aus Versehen, fast das Niveau des künstle­rischen Films gewinnt. Nicht durch originell photographierte Revolverläufe oder Mörder­schatten, sondern letztlich durch des dicken Helden menschliche Substanz.

VI

Kurzum: Das Denkspiel, das gewitzte, lebt noch. Auf die Dauer sind die kalten Maschinenpistolen-Thriller langweiliger, denn sie sind leerer. In Filmen wie Zeugin der Anklage jedenfalls überrundet der denkende Kriminal­film den modischen Gangsterkrawall mühelos und mit listigem Lächeln. Und Agatha, die Gute, siegt über Rififi.


Gunter Groll, Die Kunst der Filmkritik. 110 Filmkritiken, neu gelesen
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