Eine Metropole im filmischen Blick

Marseille, Frankreichs älteste Großstadt, stand lange Zeit im Schatten von Paris. Dieses Jahr ist die Mittelmeermetropole Kulturhauptstadt Europas und Ort vieler kultureller Aktivitäten und institutioneller Neuerungen, deren prominenteste wohl das neue, ins Meer hineinragende MuCEM, das Museum für die Kulturen Europas und des Mittelmeerraums ist. Der beeindruckende Flachbau aus Beton ist einem Korallenriff nachgebildet und zeigt durch die luftige Struktur symbolisch die Durchdringung von Stadt und Meer, inszeniert Marseille als Stadt, die seit ihrer sagenhaften Gründung vor über 2600 Jahren durch einen griechischen Seemann und eine ligurische Prinzessin ein Ort der Migration und der Métissage ist.

Raues Image

Marseille ist eine pulsierende Stadt, die sich aufgrund ihrer Lage am Rande Frankreichs immer wieder neu erfinden musste. Sie war immer auch Ort sozialer Spannungen und großer Umwälzungen, durch das Ende des Kolonialismus sowie große Migrationswellen, aus Italien, Spanien und Armenien, aus Algerien, dem Senegal und von den Komoren.

Marius und Jeannette von Robert Guédiguian (1997)
Original Cinema Quad Poster – Movie Film Posters

Diese Kulturgeschichte der Stadt prägt auch die Filmgeschichte Marseilles. Legion sind die Kriminalfilme, die in der Folge von finanzstarken Kassenschlagern wie French ­Connection oder Borsalino, ab den 1970er Jahren Marseille als Brooklyn Frankreichs inszeniert haben, darunter übrigens auch ein Tatort namens Zahn um Zahn mit Götz George. Doch abgesehen davon, dass insbesondere seit den 1980er Jahren einige Autorenfilmemacher wie Bertrand Blier, Jacques Demy, Claire Denis oder Angela Schanelec Marseille als Drehort für subtile Film­erzählungen gewählt haben, hat die Stadt auch eine ganz eigene Filmtradition. Insbesondere vier Regisseure haben so etwas wie ein Marseiller Regionalkino he­rausgebildet, das einen regionalen Konterpart zur Tradition der French Connection darstellt: der Schriftsteller und Filmproduzent Marcel Pagnol in der Zwischenkriegszeit, der Lehrer und Antikriegsaktivist Paul Carpita in der unmittelbaren Nachkriegszeit, der Theater- und Filmemacher René Allio ab den 1960er Jahren und last but not least der heute bekannteste Marseiller Autor, Robert Guédiguian, der seiner Stadt inzwischen an die 15 Filme gewidmet hat.

Dem deutschsprachigen Publikum sind diese Namen nur zum Teil bekannt, deshalb aber sind deren Filme für dieses nicht weniger interessant. Denn sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Imaginäre Marseilles erzählen, indem sie unterschiedlichste Filmplots eng mit der Kulturgeschichte und Alltagskultur der Stadt verweben: Pagnol zeigt so in Marius (1931), dem ersten Teil seiner Marseiller Trilogie, eine auf den Alten Hafen begrenzte Stadt. Mittelpunkt der Handlung ist eine Kneipe, wo sich eine Liebesgeschichte zwischen Marius und Fanny entspinnt. Ganz anders sieht das Kino der drei anderen Filmemacher aus, die der Tradition des cinéma engagé verpflichtet sind: Der Kommunist Carpita hält dem Pagnolschen Zerrbild mit Das Treffen am Hafen (1955) ein politisches Marseille entgegen.Er zeigt in neorealistischer Manier eine Stadt, die nach dem Krieg stark durch eine militante Arbeiterkultur geprägt ist, und inszeniert in seinem zensierten Film auf Basis von dokumentarischem Material den Versuch der Docker, den Hafen zu blockieren, um zu verhindern, dass über den Transithafen amerikanische Waffen für den Vietnamkrieg geliefert werden.

cinéma engagé

Allio greift in der Folge mit Transit Marseille (1990) diesen politischen Blick auf. Er zeigt das Schicksal der ExilantInnen, die im letzten Freihafen Frankreichs auf ein Visum warten, um den Richtung Süden marschierenden deutschen Truppen zu entkommen. Guédiguian kann in den 1980er Jahren bereits an eine ausgeprägte Tradition des Regionalkinos anknüpfen. Der Filmtitel Marius und Jeannette ist eine klare Referenz an Pagnol, Guédiguian verlagert die Liebesgeschichte zwischen den Titelfiguren aber in der Tradition Carpitas in ein populares Milieu. Er vertritt dabei eine inzwischen fast solitäre linke Tradition des französischen Autorenfilms, indem er an einer realistischen Tradition und einem festen Team, aber auch an einer autonomen Form der Produktion festhält. Sein Kino zeigt so prototypisch, dass das Marseiller Regionalkino einen tieferen Einblick in die Marseiller Mentalität und die Klischees über sie verleiht, aber auch von einem mediterranen Standpunkt aus neu auf Frankreich blicken lässt.

Daniel Winkler

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