Bernd Stiegler erzählt, wie das AugenBlick-Heft über Christian Petzold entstanden ist.

Manchmal ist es eine Flaschenpost, die am Anfang eines Projekts steht. Christian Petzold hatte ich Mitte der 2000er-Jahre bei der Eröffnung der Berliner Dependance des Suhrkamp Verlags, für den ich seinerzeit als Wissenschaftslektor arbeitete, in der Fasanenstraße getroffen. Wir hatten uns auf Anhieb gut verstanden, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt mit seinen Filmen alles andere als vertraut war. Er sah es mir in seiner besonderen generösen Art nach. Nach dem Abend kam es zum rituellen Gabentausch: Ich schickte ihm eine kleine Sendung mit eigenen Büchern und er im Gegenzug eine DVD von Die innere Sicherheit mit einem kleinen Begleitbrief: „Lieber Bernd, hab Dank für die Bücher. Ich bin gerade vor den Dreharbeiten, da muss man ein wenig blöd sein, ‚dump‘. Blöd filmt gut, sagen die Kameraassistenten, die mit Pferdeschwanz und Überwintern in Thailand. Ende Juni, Anfang Juli, da sind wir fertig, dann kann wieder gelesen werden, aber so sprechen die Kameraassistenten auch: ‚Das gute Buch‘ oder ‚Jetzt eine heiße Badewanne, Grog etc…‘. Also, ich werde lesen, den ganzen Sommer lang, hoffe, daß wir uns bald wiedersehen, liebe Grüße, Christian“.

Es sollten dann mehr als ein Dutzend Jahre vergehen, bis wir uns wieder trafen. In der Zwischenzeit war ich vom Verlag an die Uni gewechselt und hatte letztes Jahr Christian Petzold erneut einige Bücher geschickt, von denen ich hoffte, daß sie ihn interessieren könnten. Er antwortete postwendend und ohne Gram ob des langen Schweigens, im Gegenteil: seine Antwort klang vertraut und einladend, fast so, als hätten wir über die Jahre hinweg eine Art stummes Gespräch geführt. Und so nahm ich nach mehr als einem Jahrzehnt endlich den Faden auf, kündigte ein Seminar über seine Arbeiten an und gewann Alex Zons für die Mitarbeit. Ein Semester lang sahen wir uns mit einer Gruppe Studierender Woche für Woche einen Film von Christian Petzold an und diskutierten ihn dann detailliert. Und je intensiver wir in sein Werk eintauchten, umso mehr Fragen ergaben sich, auf die wir nicht immer eine Antwort hatten. Ohnehin sind Christian Petzolds Filme so etwas wie eine Einladung zu einem Dialog, sind sie doch nie ganz abgeschlossen, sondern strukturell offen. Sie deuten vieles an, rufen vieles auf, arbeiten gezielt mit Ellipsen und lieben lose Enden. Daher lag es nahe, nach dem Dialog mittels seiner Filme auch das Gespräch mit ihm zu suchen. Auf die Anfrage, ob er Zeit und Lust habe, mit uns ein langes, ganztägiges Interview zu führen, sagte er unverzüglich zu und nahm sogar zu Beginn noch an, daß er eigens nach Konstanz reisen müsse, um dort dann einen Tag lang mit einem ganzen Seminar zu diskutieren. Da sich sein Kalender ob anstehender Dreharbeiten mehr und mehr füllte, fuhren schließlich Alex Zons und ich nach Berlin und führten dort in Christian Petzolds Arbeitswohnung ein ganztägiges Gespräch. Es fiel just in die Zeit, die er in seinem Brief thematisiert hatte, und zeigt ohne jeden Zweifel, daß man zwar vielleicht bei Dreharbeiten „ein wenig blöd“ sein muß, aber es sich dabei wohl eher um die „Blödigkeit“ Hölderlins handelt, die ungleich scharfsinniger und unverstellter ist als der intellektuelle Diskurs von Akademikern und Kritikern.

Bernd Stiegler

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Eine kurze Leseprobe aus dem Heft

BS: Wenn man alle deine Filme nimmt, dann kommt man auf eine besondere Deutschlandkarte. Gibt es auf ihr Lücken, weiße Flecken, die du gerne füllen würdest? Es gibt ja bestimmte Orte, die sich wiederholen. Und bemerkenswerterweise auf zwei Ebenen. Es gibt Orte, an denen du real filmst, die sich dann aber in andere Orte in den Filmen verwandeln. Es gibt aber auch Orte, die in deinen Filmen erwähnt werden, um dann später zu Drehorten in anderen Filmen werden. Es gibt also sozusagen Rekurrenzen aller Art. Schwebt dir dabei eine bestimmte Ordnung vor, oder sind es bestimmte Orte, die dich faszinieren und die andere Bereiche ausschließen? So kann ich mir nur schwerlich einen Film von dir zum Beispiel in Bayern vorstellen. Zugegeben, den gibt es natürlich auch, aber nur in den Polizeirufen.

CP: Als ich an die Filmhochschule kam und wir den allerersten Kurzfilm machen sollten, gerade einmal eine Rolle schwarz-weiß Material, wollte ich unbedingt meine Heimatstadt filmen, die Orte, die für mich ein Rätsel oder eine Geschichte hatten. Die Autobahnbrücke des ersten Kusses, der Stromkasten der ersten Zigarette, so etwas in der Art. Wie alt war ich damals? Vielleicht zehn? Es gab damals einen Stromkasten, auf dem standen, das hatten wir herausbekommen, die Nummern von Prostituierten. Und da stand dann irgendetwas wie «Drei Lokführer in Hahn» oder so. Jedenfalls der Ort, wo ich herkomme. Und daneben eine Telefonnummer. Wir haben dann das Hahner Telefonbuch genommen. Wir hatten damals 25.000 Einwohner und 11.000 Anschlüsse oder so. Und dann haben wir diese Nummer gesucht, mein Freund und ich. Wir sind das Telefonbuch richtig durchgegangen. Und das hat Stunden gedauert. Schließlich haben wir die Nummer und die Adresse gefunden, unten an der Unterbacherstraße. Und dann haben wir uns auf der anderen Straßenseite dieses Hauses hinter einen Stromkasten gelegt und haben gewartet. Wir wussten ja nicht, wie sie heißt. Wir wussten nur, dass es ein Mietshaus ist, in dem irgendwo eine Frau wohnt, die ihren Körper verkauft. Diese Stunden dort hinter dem Stromkasten durchzuhalten, war schon das Aufregendste, was wir je erlebt haben. Und plötzlich kam da eine rothaarige Frau raus und stieg in einen Karmann Ghia und fuhr weg. Wir haben sie nie wieder gesehen, aber für uns war das die Erfüllung. Das war die Traumfrau, das war die Hure, die jetzt gerade so escortmäßig zu einem Kunden fährt. Davon wollte ich in meinem ersten Film erzählen: von einer pubertierenden Jugend in einer Stadt, die man nachher so schnell wie möglich verlässt, aber die man durch solche Geschichten in irgendeiner Form lebenswert gemacht hat. Das ist total gescheitert. Keines dieser Bilder hat die Melancholie und das Sentiment zum Ausdruck gebracht, was ich erzählen wollte. Ich merkte, dass das, was ich erzählen kann, nicht das Bild ist. Und dann habe ich weiter nachgedacht und dachte: «So etwas kann man nicht filmen. So etwas kann man aufschreiben, aber man kann es nicht filmen.» Damals hatte ich eine Regieassistenz bei Bitomsky in Wolfsburg. Wir sind auch nach Wolfsburg gefahren und ich dachte: «So eine deutsche Stadt! Das ist ja wie ein Labor!» Sie wurde zwar schon vorher geplant, ist dann aber von den Nazis gebaut worden. Die Nazis haben sie realisiert. Dort haben wir einen Wohn-, einen Einkaufs- und einen Konsumbereich und wir haben natürlich auch einen Produktionsbereich. So ist die Stadt aufgebaut.

Der Fußballer Nicklas Bendtner, der einmal ein halbes Jahr bei Wolfsburg unter Vertrag war, hat einmal der Zeitschrift 11 Freunde ein Interview gegeben. Christoph Biermann ist also zu ihm nach Wolfsburg mit dem Zug gefahren. Vom Bahnhof aus kann man zum Fußballstadion und zur VIP-Lounge, wo auch das Interview stattfand, zu Fuß gehen. Man kommt auf dem Weg dorthin noch an einem Outlet-Center vorbei. Der Weg dauert so 15 Minuten. Ich bin ihn oft gegangen. Als Christoph Biermann zum Stadion und zum Presseraum kam, wartete dort bereits Nicklas Bendtner auf ihn, saß einfach da, trank ein Mineralwasser und fragte ihn: «Sie sind mit dem Zug gekommen? Und den Weg hierher zu Fuß gegangen? Dann haben Sie alles gesehen!» Der hat gelitten!

Diese Nicht-Stadt, diese deutsche Nicht-Stadt – wenn es VW schlecht geht, geht es Deutschland schlecht –, diese Stadt ist für mich eine Stadt, die ich filmen kann, weil in ihr eine Konzeption steckt, eine Geschichte, ein Mythos. Hier kommen Menschen zurecht, die in einem Mythos, einer Geschichte, einer Konzeption leben müssen. Wenn man manchmal aus dem Fenster auf einen Parkplatz, einen Gehweg zu einem Mietshaus oder einen Innenhof schaut, dann fragt man sich: «Warum gehen die Leute alle eine Abkürzung, obwohl das nur einen Meter bringt?» Dieses «Aus der Konzeption aussteigen», das Verlassen der vorgesehenen Wege, das fand ich interessant. Damals sagte Hartmut [Bitomsky] zu mir: «In Leverkusen ist es dasselbe.» Nur Bayer statt VW. Und ich dachte: «Stimmt!» Da komme ich ja her. Die Stadt kenne ich in- und auswendig. Das ist genau so eine Stadt. Da kann man filmen. Das ist Deutschland, das kenne ich, da bin ich aufgewachsen. Ich weiß alles. Ich weiß, wie Reihenhäuser und Schlafstätten aussehen. Ich weiß wie der Nahverkehr aussieht, der um 20 Uhr eingestellt wird. Ich weiß, wie wichtig es mit 18 ist, einen Führerschein zu machen. Ich weiß, was eine Zersiedelung ist. Wie zersiedelt das Land dort ist, in Nordrhein-Westfalen! Deshalb finde ich Los Angeles toll. L. A. ist so etwas wie das Ruhrgebiet am Meer. Damals habe ich gemerkt: Ich kann das filmen, was ich kenne, und ich kenne Bayern nicht, überhaupt nicht. Ich bin Protestant, ich kenne das nicht!